Schlagwörter
Zu Hause angekommen, weiß ich nicht so recht wohin mit mir. Ich setze mich auf die Kante unseres Sofas und verharre der Dinge. Nur ein paar Minuten später kommt mein Freund zur Tür herein. Ich sitze da und schaue ihn an. Ich muss weinen aber nicht mehr all zu heftig… die Tränen sind langsam alle aufgebraucht. Ich bin komplett unfähig mich zu bewegen, ihm entgegenzulaufen und um den Hals zu fallen. Er kommt zum Sofa und nimmt mich in die Arme. Zumindest schaffe ich es, mich mit meinem starren Oberkörper gegen ihn zu lehnen. Mehr geht nicht. Ich bin wie eingefroren. Langsam und geordnet versuche ich wiederzugeben, was mir in der Klinik erzählt wurde. Er holt uns Taschentücher. „Das schaffen wir schon!“ Ich nicke.
Ohne große Umschweife komme ich direkt zum nächsten Problem, welches mich die ganze Zeit schon beschäftigt: Wie soll ich das meinen Eltern erklären??? Ich hatte bereits vorhin überlegt sie anzurufen. Dann stellte ich mir die Situation vor: Sie wären beide auf Arbeit oder gerade unterwegs (im Auto oder in der Bahn). Und dann dieser Anruf… Sie würden vielleicht vor Kollegen in Tränen ausbrechen, könnten sich nicht mehr auf das Autofahren konzentrieren und einen Unfall bauen oder in der Bahn zusammenbrechen. Nein, das wollte ich alles nicht. Mein Gefühl sagte mir, dass es richtiger wäre, diese Nachricht persönlich zu überbringen, daheim, in einer vertrauten Umgebung. Nicht via Telefon. Es gibt einfach Dinge im Leben, die kann man nicht in einem Anruf oder gar mit einer SMS übermitteln. Ich muss also zu meinen Eltern persönlich hinfahren. Nur haben wir kein Auto. Und bis zu meinen Eltern mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren bin ich gerade nicht imstande. Deshalb habe ich das Angebot meines Freundes dankend angenommen: Er fährt mit der Bahn schnell zu seinen Eltern und holt ein Auto. „Kann ich dich hier kurz allein lassen?“ „Ja, natürlich.“
Gefühlt war er nur eine Stunde weg, obwohl ich weiß, dass das aufgrund der Entfernung gar nicht möglich ist. Wir fahren los. Ich werde langsam unruhig, weil das Arztgespräch bereits einige Stunden her ist und ich mich noch nicht bei meinen Eltern gemeldet habe. Außerdem hat meine Mami bereits mit einer SMS nachgefragt, wie es denn gelaufen sei. Aber was sollte ich darauf antworten? Ich ahne schon jetzt, was diese unbeantwortete SMS und ein unangekündigter Besuch zu Hause für eine Wirkung haben werden.
Während der Fahrt sitzen mein Freund und ich erst stillschweigend da. Dann beginne ich erste Ansätze hinsichtlich meines Glaubens daran, dass die Forschung schon so weit sein wird, dass sie mich heil aus der ganzen Sache herausholen wird. Gleichermaßen berichtet mein Freund von seinen ersten Internet-Recherchen, die er bereits in der Bahn getätigt hat. Auch er ist optimistisch.
Wir parken vor dem Haus meiner Eltern und steigen aus. Meine Knie zittern. Was für eine große Scheiße! Wie gern würde ich die Zeit jetzt einfach zurückdrehen. Eigentlich bin ich ja diejenige, die nun aufgefangen werden sollte… aber ich bin mir darüber im Klaren, dass das hier etwas anderes ist. Ich werde gleich meinen Eltern erzählen, dass ihr einziges Kind Krebs hat. Ich klingle und meine Mami macht auf. Sie ahnt etwas – das sehe ich ihr sofort an. Immerhin stehen wir unangekündigt und ohne bisherige Nachricht bezüglich des heutigen Arztgesprächs einfach so vor der Tür und sehen wohl alles andere als hoch erfreut aus. Nur sehr vorsichtig freut sie sich darüber uns zu sehen. Der Schreck sitzt ihr deutlich im Gesicht. Wir ziehen Schuhe und Jacke aus und sagen nichts. Meine Mami steht wie angewurzelt da und starrt mich die ganze Zeit mit großen Augen an, bringt aber keinen Ton heraus. Papa ist noch unterwegs. „Setzen wir uns doch ins Wohnzimmer“, sage ich. Wir nehmen Platz auf der Couch, alle nebeneinander. Eigentlich müsste ich gar nichts mehr sagen, der Blitz hat schon längst eingeschlagen. Meine Tränen sind mittlerweile aufgebraucht und so gebe ich ruhig und sachlich wider, was mir die Ärztin heute erzählt hat – ohne großartig eine Mine zu verziehen: „Was mir da entfernt wurde, war leider bösartig“.
Mir wird schnell klar, dass ich jetzt keine großen Reden schwingen muss (und auch nicht kann). Dieser eine Satz hat sich so derartig in die Knochen gebrannt, dass alles zusätzliche, was ich erzählen würde, gar nicht mehr im Kopf ankommen würde. Wir sitzen also still schweigend da. Keiner hat etwas zu sagen. In Kopf hingegen hat gerade wahrscheinlich jeder sein eigenes Chaos an Gedanken zu bewältigen. Nach einer kurzen Pause erzähle ich, dass mir deshalb am kommenden Dienstag die Brust komplett abgenommen würde und dass die nächsten Tage noch weitere Untersuchungen anstehen werden, durch die man feststelle, ob ich schon Metastasen hätte oder nicht.
Das reicht für den Augenblick. Ich bin mir gar nicht sicher, ob sie das überhaupt noch verstanden hat. Ich weiß, dass ich Mama jetzt in die Arme nehmen sollte – aber ich schaff es nicht. Auch wenn ich selbst nicht mehr weinen kann, bin ich doch selbst von der Diagnose noch ziemlich versteinert. Parallel dazu bin ich in Gedanken so sehr dabei, dass alles sachlich zu analysieren, dass ich gar nicht auf die Idee komme, auch nur ein Funken an Emotionen preiszugeben. Außerdem wirkt sie gerade so unglaublich zerbrechlich, dass ich das Gefühl habe, wenn ich sie jetzt noch anfasse, zerfällt sie in lauter Einzelteile. Sie sitzt wie versteift da, kann weder etwas sagen noch einen Finger bewegen, der Blick ist starr nach vorn gerichtet. Ich gebe ihr noch ein paar Minuten. Dann irgendwann wurde der Schalter in ihrem Kopf umgelegt, im Sitzen schwenkt sie mit dem Oberkörper vor und zurück und fängt schließlich bitterlich an zu weinen.
Es ist Abend und wir haben alle noch nichts gegessen. Mein Freund und ich kauen auf einer Scheibe Brot rum, meine Mami hingegen kriegt keinen einzigen Happen runter. Sie hat inzwischen mit Papa telefoniert. Ein paar Minuten später steht er in der Haustür. So unterschiedlich meine Eltern schon immer in ihrer Art zu reagieren waren, so sehr zeigt sich das in dieser Situation. Während er mit verquollenen roten Augen vor mir sitzt, kann er dennoch reden, denken, handeln, sich mir zuwenden. Ich schaue zu Mama: Nichts. Absolute Leere.
Während sie einen Kamillentee braucht, hilft ihm ein Glas Whisky.
Irgendwann wird es Zeit zu gehen. Es ist alles gesagt. Jetzt muss alles sacken und im Kopf ankommen. Sich stillschweigend gegenüberzusitzen, macht die Sache nicht besser. Wieder daheim, verschwinde ich schon bald im Bett. Ich bin völlig k.o. und will nur noch, dass dieser Tag schnell vorbei geht.