Schlagwörter
Angehörige, Enttäuschung, Erwartungen, Lebensmut, Mitmenschen, Weihnachten, Wut
Wir haben Dezember und so schmücken vorweihnachtliche Festivitäten die Wochenenden. Dies bietet die optimale Gelegenheit wieder Kontakt zu Menschen zu pflegen – das erste Mal seit der Diagnose. Mein Freund und ich sind heute zu einem Hoffest eingeladen… mit einigen unbekannten aber auch vielen vertrauten Gesichtern. Ich freue mich sehr auf diesen Abend. Sicherlich würden viele ihr Beileid bekunden und sich nach meinem Befinden erkundigen. Dann aber würden wir einfach nur den Abend genießen, miteinander lachen und uns der weihnachtlichen Musik erfreuen. Ablenkung – das war das große Stichwort. Die Sorgen der letzten Tage einfach mal kurz hinter sich lassen.
Allerdings muss ich schnell feststellen: So simpel wie es gedacht war, lässt es sich offenbar (für die anderen) nicht umsetzen. Nachdem ich von allen begrüßt werde, merke ich schnell, wie steif sie alle sind. Nichts von der bekannten lässigen Art ist noch da. Schnell entfernt man sich wieder von mir, als ob sie sich in meiner Gegenwart unwohl fühlen. Auch den Rest des Abends ist man offenbar sehr daran interessiert, eher einen großen Bogen um mich zu machen. Als ob ich ansteckend wäre. Ist das etwa der Preis, den ich für meinen offenen Umgang mit der Krankheit zahlen muss?! Ich überlege, ob man sich so als HIV-positiver Mensch fühlt, nachdem man sich geoutet hat?! Ich gehe zu meinem Freund, der sich an diesem Abend eigentlich dazu bereit erklärt hatte, den Glühwein auszuschenken. „Kannst du mir bitte Gesellschaft leisten? Ich stehe sonst ganz allein da draußen.“ Er nickt: „Selbstverständlich!“.
Ich bin unglaublich enttäuscht, traurig und wütend zugleich. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut wieder unter Leute zu kommen, sie alle wiederzusehen und mit ihnen vergnügt zu plaudern. Und nun wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass dieser Abend schnell vorüber geht, ich nach Hause fahren, mich auf meiner Couch einlümmeln und fernsehen kann.
Ich hatte mir so fest vorgenommen weiterleben zu wollen. Aber irgendwie kommt es mir jetzt so vor, als ob die anderen es nicht erlauben würden. Als ob sie mich schon für tot erklärt hätten. So nach dem Motto: Heute steht sie da noch so… aber nicht mehr lange!
Vielleicht haben diese Menschen in der Tat Angst davor, dass man eventuell stirbt. Was sie aber offenbar noch viel mehr fürchten, ist, dass sie mitleiden müssen. Also schotten sie sich lieber schnell genug ab. Kommen einem nicht zu nahe, damit es am Ende nicht so weh tut. Im Grunde ist es unglaublich: Ich bin diejenige mit dem Krebs. Und anstatt mir zu helfen, haben wieder alle nur Angst um sich selbst! Es ist wie nachts auf dem S-Bahnhof… wenn mal wieder jemand brutal zusammengeschlagen wird und alle wegschauen, weil sie Angst haben, selbst was aufs Maul zu kriegen. Dazu fällt mir nichts mehr ein.
Ein anderer Grund mag vielleicht auch sein, dass die Menschen Angst haben. Angst davor, etwas Falsches zu sagen. Ich frage mich nur, was an einem ernst und liebevoll gemeinten „Wie geht’s dir denn?“ so schwierig und falsch sein soll. Und außerdem ist es ja nicht gerade so, als ob ich ängstlich und zurückgezogen in einer Ecke stehen würde. Überhaupt hätte ich wohl kaum an dieser Veranstaltung teilgenommen, wenn ich mich der ganzen Situation noch nicht gewachsen fühlte. Nein, ich stehe mitten in der Masse… lächelnd, gierig nach Ablenkung und hungrig danach, dass einer mit mir lacht und sich mit mir an der festlichen Vorweihnachtsstimmung erfreut. Ich suche regelrecht den Blickkontakt, weil ich jemandem zulächeln möchte… ihn oder sie ermuntern möchte keine Angst vor mir zu haben… dass ich immer noch ICH bin und man sich nach wie vor mit mir unterhalten kann. Doch Fehlanzeige. Alle unterhalten sich angeregt mit ihrem Gesprächspartner. Mir fällt auf, dass mir nur die Leute ein Lächeln schenken, die mich (und meine Krankheit) nicht kennen. Bei den anderen habe ich das Gefühl, dass sie über mich reden und sich dabei anstrengen müssen, nicht zu mir herüberzuschauen.
Ich fühle mich wie im falschen Film. Meine anfängliche Euphorie in Bezug auf diesen Abend wird gänzlich im Keim erstickt. Mein Kopf senkt sich immer mehr. Die Vorfreude schwenkt um zur Trauer und meine kleine Welt zerbricht in tausend Teile.
Vielleicht sollte ich ohne zu fragen mich einfach irgendwo dazustellen. Aber es ist so offensichtlich, dass die Leute den Kontakt meiden wollen. Wieso also soll ich mich aufdrängeln? Das alles traf mich wie ein Schlag. War das der Anfang vom Ende? Musste ich jetzt nicht nur gegen eine Krankheit, sondern auch gegen die Vorurteile und Ängste anderer ankämpfen? Hatten sie alle solche Angst davor, dass ich ihre kleine heile Welt erschüttern könnte?! Wieso ist der Mensch so dermaßen feige? Ich bin so enttäuscht!
So langsam fange ich an zu glauben, dass die Depression eines Schwerkranken nicht aus der Krankheit selbst heraus entsteht, sondern aus der Tatsache, dass der Betroffene von der Gesellschaft ausgestoßen wird. Isoliert durch die Gesellschaft, nicht auf eigenen Wunsch. Und dann frage ich mich, ob es nicht die anderen sind, die einen Psychiater nötig hätten…