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Mein Freund und ich sitzen zusammen in der Badewanne. Ich nehme die Unterlagen „Patientenaufklärung Zytostatische Chemotherapie“ und „Verhaltenshinweise zur zytostatischen Chemotherapie“ zur Hand. Als ich ihn frage, ob ich das laut vorlesen darf, stellt er die richtige Frage: „Will ich überhaupt wissen, was da so drin steht!?“. Wahrscheinlich nicht. Aber irgendwie muss ich mich auf das Bevorstehende vorbereiten. Wobei sich dann wieder die Frage stellt, wie gut man sich tatsächlich auf so etwas vorbereiten kann!? Gerade die Verhaltenshinweise halte ich aber für sehr wichtig. Also fange ich an zu lesen – laut – denn das will ich mir nicht allein antun…

In der Patientenaufklärung steht zunächst Allgemeines zu den medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten. Dann wird es konkreter: Wie wirkt die Chemo? Antwort: Die Medikamente (Zytostatika) zerstören alles, was sich schnell vermehrt. Dummerweise trifft das nicht nur auf Tumorzellen zu, sondern auch auf gesunde Zellen. Besonders das Knochenmark, der Verdauungstrakt, Haut und Haar, die Keimdrüsen sowie das Nervensystem werden in Mitleidenschaft gezogen. Die Auswirkungen sind jedoch nicht bei jedem Patienten gleich, da es unterschiedliche Darreichungsformen (z. B. Tabletten oder Infusionen) gibt, die Wirkstoffe durchaus vielfältig sind und außerdem das gleiche Medikament unterschiedlich dosiert werden kann. All diese Faktoren sind abhängig von sowohl der Krebserkrankung und ihrem Stadium als auch dem Alter und der Konstitution des Patienten. So erhält jeder seinen ganz persönlichen Chemoplan, der im Zweifel auch wieder neu angepasst wird. Es ist also nicht verwunderlich, dass jeder Patient unterschiedlich stark ausgeprägte Nebenwirkungen zeigt, die – laut der Aufklärung – auch schwer bis lebensbedrohlich sein können. Na wenn das keine Einladung ist!

Ich weiß, dass man durchaus vorsichtig mit den Äußerungen auf einem Patientenaufklärungsbogen sein muss. Denn das Krankenhaus muss sich felsenfest absichern. Demnach stehen da auch Dinge drin, die wirklich extrem unwahrscheinlich sind und deshalb am besten gar nicht erst erwähnt werden sollten. Denn unnötige Panikmache ist dadurch vorprogrammiert.

Im Folgenden greife ich die unter Beschuss geratenen Organsysteme auf und erkläre, welche Auswirkungen ich laut dem Infoblatt zu erwarten habe.

  1. Knochenmark:

Hier werden unsere Blutzellen gebildet. Dazu zählen zum Beispiel die weißen Blutkörperchen, die für unser Immunsystem – also unsere Abwehr – verantwortlich sind. Werden sie zerstört, führt das zu einer erhöhten Infektionsanfälligkeit. Mit entsprechenden Medikamenten kann man aber aushelfen. Auch die roten Blutkörperchen reifen im Knochenmark heran und sorgen für den Sauerstofftransport im Körper. Wenn diese Zellen also drastisch sinken, ist der Körper nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt und dementsprechend nicht leistungsfähig. Die Folgen sind Erschöpfung und vermehrte Müdigkeit. Hier hilft eine Bluttransfusion. Zuletzt seien die Blutplättchen erwähnt. Ihre Aufgabe besteht darin, eine blutende Wunde zu verschließen. Eine starke Reduzierung ihrer Anzahl hat demnach zur Folge, dass die Blutungsneigung steigt. Auch hier kann man mit entsprechenden Bluttransfusionen Unterstützung liefern.

  1. Verdauungstrakt:

Auch die Zellen von Magen und Darm zählen zu den vermehrungsfreudigen Zellen des Körpers und kriegen dadurch ordentlich eins auf den Deckel. Hier wird das erwähnt, an was man ohnehin als Erstes denkt, wenn von einer Chemo die Rede ist: Appetitlosigkeit, Übelkeit und Erbrechen… aber auch Verstopfung, Durchfall und Entzündungen im Mundbereich. Die Stärke der Ausprägung variiere je nach Art des Medikaments. Na geil, hier geht es also gar nicht mehr um das „ob“, sondern um das „wie“. Wobei ich mich frage, wie eine Verstopfung gleichzeitig mit Durchfall funktionieren kann?! Aber wahrscheinlich werde ich es bald wissen… 😦

  1. Haare & Haut:

Natürlich wird hier der Haarausfall thematisiert, wobei es vor allem um die Kopfhaare geht. Bei sämtlichen anderen Haaren meines Körpers darf ich mich überraschen lassen. Ansonsten werden noch eventuelle Wachstumsstörungen oder Farbveränderungen an den Finger- bzw. Zehennägel erwähnt. Auch die Haut kann sich entzünden oder gar abgestoßen werden – oh Gott!

Mein Freund bittet mich, nicht mehr laut vorzulesen. Und bevor er noch blasser wird, komme ich diesem Wunsch sehr gern nach. Auch ich erreiche langsam das Limit des Aushaltbaren, lese aber weiter.

  1. Nervensystem, Muskeln:

Hier ist alles vertreten, was irgendwie mit dem Fühlen oder der Muskelkraft zu tun hat. Dazu zählen Kribbeln und/oder Pelzigkeitsgefühl (komisches Wort) und Schwäche, die extrem selten auch bis hin zu einer Lähmung voranschreiten kann. Das alles bildet sich in der Regel wieder zurück, kann im Extremfall aber auch bestehen bleiben. Supi, wieder so etwas, was man nicht wissen will… Ansonsten werden noch Geschmacksstörungen, Kälteempfindlichkeit und Muskelkrämpfe aufgeführt. Ansonsten sehr interessant und fast unvorstellbar: Es kann zu psychischen Verstimmungen kommen… Da klopf ich mir doch auf den Schenkel und denke: Nein, tatsächlich!? Und ich dachte immer, dass auf einer Krebsstation der Bär steppt…

  1. Keimdrüsen:

Kommen wir zu den Eierstöcken (bzw. den Hoden beim Mann). Auch hier kann eine Chemotherapie ihre Spuren hinterlassen. Was daraus folgt sind Unregelmäßigkeiten oder völliges Ausbleiben der Monatsblutung während der Behandlung. Ich wusste doch, dass es zu irgendetwas gut ist! Wenn die allerdings nach Beendigung der Therapie nicht wieder einsetzt, dann sind alle Eizellen garantiert futsch und ich komme vorzeitig in die Wechseljahre. Das fände ich allerdings nicht so geil! Hoffen wir, dass dieser Zettel hier Recht behält und das eher auf Frauen über 40 zutrifft. Ansonsten wird von einer Schwangerschaft dringend abgeraten. Ist ja einleuchtend, dass diese toxischen Substanzen keinen positiven Effekt auf einen Embryo hätten. Allerdings wird die Libido ohnehin während der Therapie gestört sein. Wobei ich es schon fast lächerlich finde, das hier extra noch zu erwähnen. Denn mal ganz ehrlich: Welcher normale Mensch hat denn Lust auf Sex, wenn er an Durchfall leidet, kaum einen Fuß vor den anderen setzen kann und kotzend mit Glatze über der Kloschüssel hängt?!

Der Vollständigkeit halber soll an dieser Stelle erwähnt werden, dass natürlich bei solch einer Giftgabe potentiell jedes Organ in Mitleidenschaft gezogen werden kann.

Und jetzt kommt der absolute Höhepunkt dieser Dramaturgie – ein Satz, den man absolut gar nicht hören möchte: Die Therapie kann das Risiko erhöhen, dass sich nach Jahren erneut eine bösartige Erkrankung ausbildet. Ich könnt jetzt schon kotzen!

Dann greife ich mir das Blatt zu den Verhaltenshinweisen. Gemessen an den unzähligen Nebenwirkungen, bin ich überrascht, dass diese Hinweise nur eine A4-Seite unfassen. Aus den zuvor benannten Nebenwirkungen ergibt sich also Folgendes:

  • Regelmäßige (Blut-)Untersuchungen beim Arzt sind enorm wichtig.
  • Bei Fieber, Atemnot, Schmerzen, Hautveränderungen, Entzündungen im Mund oder Blutungen, hat man umgehend den Arzt zu informieren.
  • Sind die weißen Blutkörperchen extrem stark erniedrigt? Dann sollte man sich nicht mit Personen zusammenraufen, die gerade die Masern, Röteln oder Windpocken haben. Menschenansammlungen (z.B. in Kaufhäusern, öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf Partys) sind dann also kontraproduktiv. Es wird auch ausdrücklich davon abgeraten, während der Therapie Impfungen durchzuführen.
  • Verhütungsmaßnahmen während der Therapie und auch noch ein Jahr danach werden dringend angeraten.
  • Wenn nötig, bitte die psycho(onko)logische Beratung in Anspruch nehmen.
  • Insbesondere an Therapietagen nicht selbst Auto fahren.
  • Wenn es die körperliche Konstitution erlaubt, sind (leichte) sportliche Aktivitäten ausdrücklich erwünscht.

Nun ja… war ja zu erwarten, dass das einem nicht gerade schmackhaft gemacht wird. Was davon für mich konkret und wichtig wird, bleibt abzuwarten. Allerdings ist stark anzunehmen, dass ich viele der Nebenwirkungen tatsächlich erleben werde. Denn die Ärztin war (leider) so ehrlich und meinte: „Sie werden die heftigste Chemo bekommen, die unser Haus anzubieten hat“.

So lässt sich die Angst jetzt wirklich nicht mehr verdrängen.