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Inzwischen laufe ich leicht orientierungslos durch meine kleine Welt. Dass die Erde sich weiterdreht – egal ob unmittelbar in meiner Nähe oder auf dem Rest des Kontinents – bekomme ich nicht mehr mit. Wenn mich einer fragen würde, was mir gerade durch den Kopf geht, könnte ich es nicht beschreiben. Ich versuche die unendlich vielen Gedankenströme beiseite zu schieben und einen klaren Kopf zu bewahren. Aber natürlich ist das einfacher gesagt als getan.
Bevor ich morgen meinen Krankenhausaufenthalt antrete, statte ich meiner Frauenärztin noch einmal einen Besuch ab. Sie stellt mir neben ein paar Rezepten (Perücke, Epithesen, BHs) auch den Einweisungsschein für die Klinik aus. Ich erzähle ihr von meinem Besuch im Kinderwunschzentrum und dass ich mich gegen eine vorsorgliche Maßnahme entschieden habe. Sie nickt: „Das hätte ich auch so gemacht“. Dieses Geständnis empfinde ich als große Erleichterung. Sie drückt mich noch einmal und versichert mir, dass ich bei Problemen immer anrufen darf. „Sie können sich dann direkt zu mir durchstellen lassen – die Schwestern wissen Bescheid.“ Dankbar über solch Anteilnahme verlasse ich die Praxis. Es ist wirklich unfassbar bedrückend: Jedes Mal, wenn ich eine Tür hinter mir schließe, habe ich das Gefühl, Lebewohl zu sagen.
Ich fahre zu einer der Filialen meiner Krankenkasse und lasse meinen Einweisungsschein unterschreiben. Dann ist es für mich auch schon an der Zeit, daheim den Koffer zu packen. Allerdings muss ich gestehen, dass ich keinen blassen Schimmer habe, was man für einen Krankenhausaufenthalt einpacken muss. Sonst nutze ich den Koffer schließlich für Urlaubsausflüge. Statt der zweiten Jeans also noch eine Jogginghose und statt schöner Oberteile ein paar schludrige T-Shirts. Und wie viel davon? Ich habe keine Ahnung. Und Schminke? Brauch ich die? Wohl eher nicht… Miss Germanys next Kotz-Model werden die wohl kaum küren! Aber vielleicht empfinde ich es als kleine Aufwertung, wenn ich dadurch nicht ganz so furchtbar aussehe? Was soll’s… ich packe ein paar Dinge zusammen – nichts Weltbewegendes. Sollte etwas fehlen, kann ich immer noch meinen Freund bitten, es bei einem seiner Besuche mitzubringen.
Weil meine Eltern in der Nähe des Krankenhauses wohnen, möchte ich kommende Nacht bei ihnen nächtigen um morgen früh einen entsprechend kurzen Anfahrtsweg zu haben. Wobei ich damit gleich zur nächsten großen Herausforderung des Tages komme. Meine Eltern wissen noch gar nichts von der bevorstehenden Chemotherapie. Und so schwebt seit Tagen in meinen Gedanken diese Ohnmacht mit, ihnen das noch erklären zu müssen. Nun denn… heute komme ich zu meinem großen Auftritt! Es ist für mich annähernd so beschissen wie damals die Krebsdiagnose zu verkünden. Der Grund für mein bisheriges Schweigen verbirgt sich hinter der Tatsache, dass meine Eltern erst heute Abend von ihrer Reise zurückkehren. Es ist ihr großer Urlaub, auf den sie sich das ganze Jahr freuen und den ich nicht zerstören wollte. Außerdem hätten sie weder etwas an der Situation ändern noch helfen können. Also habe ich sie in dem Glauben gelassen, dass das Arztgespräch letzte Woche völlig belanglos verlaufen wäre. Einfach war das nicht!
So sitzen mein Freund und ich in der Wartehalle des Flughafens… zwar mit neuem Lageplan aber keiner wegweisenden Beschreibung. Als wir meine Eltern sehen, laufen wir ihnen freudestrahlend entgegen – als wär nichts. Wir sind echt gut… trotz nicht existierendem Drehbuch geradezu Oscar verdächtig! Während ich noch denke, dass wir es in dieser Stimmung vielleicht bis zum Auto schaffen, machen mir meine Eltern bereits in der Flughafenhalle einen Strich durch die Rechnung: „Und, wie lief’s bei euch so? Alles ok?“. Ich schaue zu meinem Freund… dann wieder zu meinen Eltern… der Blick senkt sich bereits… „Oh man ist das schwierig!“ Sogleich schauen mich beide ängstlich und mit großen Augen an. „Ich muss doch noch zur Sicherheit ne Chemotherapie machen – und übermorgen geht’s los…“.
Das hat gesessen. Während die glasigen Augen meines Vaters ganz klein werden, springen mir die meiner Mutter mit Entsetzen entgegen. Natürlich können sie nicht begreifen, warum das geschehen muss. Aus ihrer Sicht ist mein Körper seit der Operation frei von bösen Zellen. Dass eine Chemo aufgrund eines „Hätte-Wäre-Könnte“-Prinzips verschrieben wird, entzieht sich völlig ihrem Verständnis. „Aber da ist doch nichts mehr!“, kommt es mir verzweifelt entgegen. Augenscheinlich nicht… Trotzdem wäre kein Mensch auf dieser Welt imstande, diese Aussage glaubhaft und mit 100%-iger Sicherheit zu bestätigen oder zu widerlegen. Mir ist in den letzten Tagen sehr bewusst geworden, dass jemand, der an Krebs erkrankt, nur noch mit dem Konjunktiv unterwegs zu sein scheint. Verbindliche Zusagen macht einem keiner mehr.
Im Auto ist die Stimmung entsprechend bedrückend. Keine üblichen Urlaubsgeschichten über Wetter, Land und Leute. Stattdessen große Stille. Während bei meinem Vater langsam alles sackt und er imstande ist ein paar Fragen zu stellen, sitzt meine Mutter neben mir auf der Rücksitzbank und starrt aus ihrem Fenster. Irgendwann greift sie wortlos nach meiner Hand und lässt sie nicht mehr los.
Ich versuche einen kurzen Überblick über die letzten Tage zu geben, bemerke aber bald, dass das für meine Eltern gerade kaum bis gar nicht zu fassen ist. Also schweige ich und denke mir: Ein anderes Mal…